Agit-Noise
i:wound: '_ _ ' (CD, Suggestion Records/Verato Project Verazität 002, 2001)
Ultra-red: La Economía Nueva (Operation Gatekeeper) (3''-CD, Fat Cat/Splinter Series FAT-SP04

Dass politische Tatbestände bzw. Aktivitäten via Originalton-Sample Eingang in Musik finden, entwickelt sich womöglich zu einem breiteren Phänomen; das derzeit wohl bekannteste Beispiel ist der Schulterschluss zwischen Band und Fans, "Sprachrohr" und lesbisch/feministischer Aktivistinnen-Basis, den die Band Le Tigre auf ihrem letzten Album Feminist Sweepstakes (Chicks on Speed Records) demonstriert, indem sie Teilnehmerinnen am New Yorker Dyke March 2001 im gleichnamigen Track zu Wort kommen lässt. Auf anderen, etwas später erschienenen Tonträgern kommen ähnliche Verfahren zum Einsatz, die aber auf weniger eindeutige Identifikationen hinauslaufen. Zwei Beispiele:

'_ _ ' von i:wound ist eine 75-minütige Collage von Radio- und Fernsehstimmen, die am 11. 09. 2001 zwischen 11 und 14 Uhr New Yorker Ortszeit aufgenommen wurden. Die CD ist in 99 kurze Tracks unterteilt. Schon die Auswahl der verwendeten Samples - kommentierende, berichtende Stimmen, keine "Live"-Geräusche vom Schauplatz New York - , aber mehr noch ihre Überlagerung, die sowohl Redundanzen als auch Widersprüche hervortreten lässt, rückt das Faktum ins Bewusstsein, dass die Terroranschläge für alle anderen als die Betroffenen und Augenzeugen ein medial konstruierter Tatbestand sind, weshalb die Wertungen und Konsequenzen, die damit in der Berichterstattung verbunden werden, stets kritisch zu hinterfragen sind.

Die von dem Fernsehsender CNN unternommene Proklamierung eines "New War" suggerierte einen Ausnahmezustand, der bedingungslose Unterstützung der Bevölkerung für das militärische Zurückschlagen impliziert. Gegen dieses von dem Politikwissenschaftler Thomas Meyer beschriebene "Präsentismusprinzip der Medienkommunikation", das dem Medienkonsumenten "Betroffenheit" suggerieren soll, setzt i:wound eine Strategie der Distanzierung - das Hören von Stimmen erlaubt tendenziell eine stärkere Distanzierung als das Sehen von Bildern, und je sinnentleerter die Wiederholungen werden, desto deutlicher tritt die Notwendigkeit einer Interpretation der Geschehnisse hervor, denn, so der Philosoph Slavoj Zizek in seinen äußerst lesenswerten Liner Notes, "the actual effect of these bombings is much more symbolic than real." Der Effekt besteht darin, dass er dem industrialisierten Westen klar macht, dass seine privilegierte Stellung in der Welt nicht selbstverständlich ist und das System der globalen Ausbeutung (falls Ihnen der Begriff nicht behagt, lesen Sie bitte: Asymmetrie), auf dem sie beruht, möglicherweise in naher Zukunft umgestürzt werden könnte, wenn nicht Schritte zum Abbau dieses Ungleichgewichts unternommen werden. In Zizeks Worten: "America's [man könnte zweifellos ergänzen: and the West's] peace was bought by the catastrophes going on elsewhere. Therein resides the true lesson of the bombings: the only way to ensure that it will not happen HERE again is to prevent it going on ANYWHERE ELSE."

Während i:wounds Album eine Distanzierung von dem verarbeiteten Material einfordert, das keineswegs musikalisiert, sondern in einer Weise 'ausgestellt' wird, die den Artefaktcharakter von Medieninformationen betont, versucht eine Ende Januar 2002 erscheinende 3''-CD von Ultra-red auf ganz andere Weise ein ganz ähliches Ziel zu erreichen, nämlich eine Politisierung von Geräuschen (oder doch zumindest von Geräuschmusik). Alle Ausgangssounds, die für die drei Minimal-Techno-concrète-Tracks zwischen Aphex Twin und Asmus Tietchens teilweise sehr stark bearbeitet wurden, wurden laut Begleittext an dem mexikanisch-US-amerikanischen Grenzübergang San Ysidro aufgenommen, und zwar am 10. Dezember 2000. An diesem Tag demonstrierten dort Menschenrechtsgruppen anlässlich des internationalen Tags der Menschenrechte gegen die Militarisierung der Grenzkontrollen, die jährlich zahlreiche Todesopfer unter den Mexikanern fordert, die sich auf der Suche nach Arbeit gezwungen sehen, illegal in die USA einzuwandern. Diese verschärfte Grenzbewachung ist unter dem Namen "Operation Gatekeeper" bekannt, was der CD auch ihren Titel gibt: La Economía Nueva (Operation Gatekeeper). Indem Ultra-red die Geräuschkulisse der Demonstration hörbar machen, dokumentieren sie nicht im klassischen Sinne das Geschehen - vielmehr informieren sie durch die musikalische Umsetzung und deren Begleittext (dem hier eine ganz zentrale Funktion zukommt) auch tendenziell oft eher politikferne Avantgarde-Zirkel über Anliegen und Aktivitäten von Antiglobalisierungs-Plattformen wie Stop Gatekeeper, Resist Militarization und Action LA. Sie versuchen ihre HörerInnen für ihre Themen zu sensibilisieren, indem sie zeigen, dass der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit aufregende Musik hervorbringen kann (bzw. dass er Gegenstand aufregender Musik sein kann).

Ob solche Praktiken politisch und/oder künstlerisch "legitim" sind, wird im Einzelfall beurteilt werden müssen; weder i:wound noch Ultra-red jedenfalls setzen sich dem Vorwurf aus, Politik zu ästhetisieren. Geräuschmusik und Hörkunst sind stets Versuche, die Selbstverständlichkeit, mit der wir Alltagsgeräusche hören und einordnen, in Frage zu stellen. Im Rahmen dieses Projekts ist es legitim, militaristisch gefärbte Medienberichterstattung zu durchleuchten. Ebenso legitim ist es, das saturierte Klischee, politisches Engagement bringe nur langweilige und unglamouröse Erscheinungen hervor, durch musikalische Brillanz zu unterlaufen - was Ultra-red übrigens eindeutig im Pop verortet.

gebrauchtemusik

Die CD von i:wound kann direkt beim Label bestellt werden.
Die 3"-CD von Ultra-red wird von Hausmusik vertrieben.